„Ich mache Schluss! So kann es nicht mehr weiter gehen!“ Mein schwangerer Körper rebelliert zitternd, während ich versuche mich zu übergeben. Während ich das tue, was ich seit 18 Jahren mache: fressen, um zu erbrechen. Doch jetzt bin ich nicht mehr allein, ich habe Angst dem Ungeborenen Schaden zuzufügen.
Meine Sucht begann 1992 als ich 13 Jahre alt war. Nicht, weil ich mich einem Modebild unterwerfen wollte – nein, ich fand meinen Vater zum kotzen. Er war ein Monster. Er trank täglich und wenn er sein Level erreicht hatte, wurde er unausstehlich. Er schimpfte, schrie und schlug. Egal wie hart wir (an uns) arbeiteten, nichts konnten wir ihm Recht machen. Er terrorisierte unsere Familie und meine Mutter fand nicht den Mut, ihn zu verlassen. Wie auch mit vier Kindern?
Ich fühlte mich weder geliebt noch verstanden, dafür permanent unter Druck. Im Erbrechen fand ich ein Ventil – ich kotzte mich im wahrsten Sinne des Wortes aus. Gleichzeitig befriedigte ich meinen Hunger nach Zuwendung und positiver Aufmerksamkeit durch Süßigkeiten. Sie schmeckten mir – im Gegensatz zum Verhalten meines Vaters.
Für meine Sucht bestahl ich meine Mutter. Meine Rationen besorgte ich in ihrem Lebensmittelgeschäft, später in ihrem Restaurant. Niemand bemerkte, dass ich jahrelang Essen in mich hineinstopfte und wieder erbrach. Jeder in unserer Familie kämpfte mit seinen eigenen Problemen.
Bis zu meinem Auszug nach meinem Abitur (1998) perfektionierte ich meine Sucht. Ich lernte unbemerkt Essen zu bunkern und zu „entsorgen“. Wurde ich doch mal erwischt, hielt ich gute Ausreden parat. Ich wurde eine meisterhafte Lügnerin und Schauspielerin – präsentierte eine starke, optimistische Frau, die alles im Griff hat, während mir mein Leben zunehmend entglitt.
Fast täglich verschlang ich Essen in rauen Mengen, um es anschließend wieder zu erbrechen. Ich nahm zu, weil nicht immer alles problemlos wieder heraus kam. Fühlte mich zunehmend unwohler, aber konnte die Fressorgien nicht unterbinden. Daraufhin entwickelte ich eine Sportsucht und versuchte krankhaft meine angefressenen Pfunde abzutrainieren. Täglich mindestens ein bis zwei Stunden, meist nach dem Kotzen. Ein Teufelskreis. Gleichzeitig wuchsen meine Schulden, weil ich all mein Geld auf Umwegen das Klo hinunter spülte…
Ich belog mein Umfeld, um nicht aufzufliegen und machte mir selbst etwas vor: „Morgen höre ich auf! Wirklich!“
Immer wieder versuchte ich auszubrechen. Ich startete einige Therapien und suchte Gespräche mit vertrauten Freunden. Erfolglos. Eine Therapeutin sagte: „Ein geprügelter Hund wird niemals wie einer leben, der auf der Sonnenseite aufgewachsen ist!“. Sie schien Recht zu haben, denn die vielen Gespräche und daraus resultierenden Erkenntnisse, brachten mich nicht dazu, den Finger nicht mehr in den Hals zu stecken. Ich machte weiter.
Ich distanzierte mich von Freunden, damit ich mehr Zeit zum Kotzen hatte und stärkte so meine Einsamkeit und mein unerfülltes Verlangen nach Liebe. Ich lebte nur noch für das Essen und Erbrechen – es bestimmte meine Gedankenwelt, ja meinen Tagesablauf und zerstörte allmählich mein Leben. Das machte mich wahnsinnig. Ich wollte weg – einfach neu starten. Innerhalb von sieben Jahren zog ich 15 Mal um. Ich versuchte verzweifelt zu fliehen, dabei war die Esssucht immer fest im Gepäck.
2006 trat Thomas plötzlich in mein Leben und sagte: „Ich will, dass du damit aufhörst, denn ich kann nicht dabei zusehen, wie sich der Mensch, den ich liebe, kaputt macht.“ Wow! Deshalb wow, weil der Mann, mit dem ich vor Thomas sieben Jahre in einer Beziehung lebte, meine Sucht für Hirngespinste hielt.
Plötzlich gab es einen Menschen in meinem Leben, der mich Ernst nahm. Mich sah. Hinter meine glitzernde Fassade blickte und die dunkle Wahrheit erkannte. All meine Lügen entlarvte. Das war beängstigend, denn ich hatte noch nie jemanden so nah an mich herangelassen – Thomas entdeckte jedes meiner schwarzen Geheimnisse. Aber es war auch befreiend, denn er blieb trotz allem. Er liebte mich so wie ich bin. Diesen Mann durfte ich nicht mehr gehen lassen.
Ich suchte mir schnellstens einen Therapeuten und arbeitete monatelang meine Vergangenheit und meine Verhaltensmuster auf. Ein langer, zäher Weg, der mich viel Kraft und Tränen kostete. Fast jede Woche fuhr ich nach der Sitzung völlig aufgelöst nach Hause. 30 Minuten in der Bahn umgeben von lauter wildfremden, glotzenden Menschen.
Nach etwa zwei Jahren fühlte ich mich runderneuert. Ich entwickelte Notfallstrategien, mit denen es mir gelang „Fressanfälle“ zu umschiffen. Dennoch hatte ich immer wieder Rückfälle. Mit großen zeitlichen Abständen zwar, aber ging es mir schlecht, verfiel ich ins alte Muster.
Nach unserem vier jährigem Beziehungs-Jubiläum (2010) wurde ich ungeplant schwanger. Zu diesem Zeitpunkt betrachtete ich mich als nahezu geheilt und erbrach nur noch in absoluten Ausnahmesituationen. Die Schwangerschaft war jedoch eine enorme Ausnahmesituation, da ich das Gefühl hatte, wieder die Kontrolle zu verlieren.
Nur mit Kontrolle war es mir gelungen – nach so vielen Jahren Bulimie – ein gesundes Essverhalten zu erarbeiten. Raucher können einfach die Zigaretten weglassen, wenn sie aufhören wollen – Alkoholiker den Alkohol, doch Essen? Zu Beginn meiner Therapie hatte ich furchtbare Angst davor normal zu essen. Was hieß überhaupt normal essen? Was waren normale Portionen? Ich hatte einen verzerrten Bezug zu Nahrungsmitteln und Mengen, kein gutes Hunger-/ Sättigungsgefühl und musste gesundes, bewusstes Essen Schritt für Schritt wieder erlernen.
Regelmäßige Mahlzeiten mit sättigender Kost führten nicht zu einer Gewichtszunahme, wie erwartet. Im Gegenteil ich lernte mein Gewicht durch ausgewogene Ernährung und moderaten Sport zu halten, ohne zu diäten. Ich merkte, dass nichts Schlimmes passiert, wenn ich ein Eis oder einen Schokoriegel esse. (Früher wäre jeder Minihappen Süß der Auftakt für eine Orgie gewesen.) Kontrolliertes und bedachtes Essen (mithilfe eines Wochenplanes) gab mir Struktur und Sicherheit. Das mag sich pedantisch und anstrengend anhören, aber es half mir über die Jahre ein gutes Körpergefühl zu entwickeln.
Die Schwangerschaft wirbelte jedoch alles durcheinander. Da waren hormongesteuerte Heißhungeranfälle und die Tatsache, dass mein Gewicht stieg, ohne dass ich wesentlich mehr aß. Zudem startete ich zu dem Zeitpunkt meine Freiberuflichkeit und arbeite bis zum fünften Monat teils 50-60 Stunden pro Woche in einer anderen Stadt und sah Thomas nur an den Wochenenden. Im tiefsten, kalten Winter. Mein Netz aus Sicherheiten zerfiel: Ich fühlte mich einsam, verlor mein Körpergefühl und geriet in Panik.
Ich hatte prompt drei Rückfälle. Alle drei liefen gleich ab. Ich fraß, erbrach und mein Körper reagierte mit heftigsten Schwindelanfällen und Übelkeit. Mit jedem Mal heftiger. „Was war das?“ Nach dem letzten Rückfall verkroch ich mich zitternd unter meine Decke: „Was mache ich hier zum Teufel? Ich setze meine Beziehung, meinen Therapiefortschritt und das kleine Leben in mir aufs Spiel!“
Ich war kurz davor wieder in den alten Trott zu verfallen, doch jede Faser meines Körpers kämpfte mit aller Macht dagegen. Zum ersten Mal dachte ich bewusst über die Konsequenzen nach. „Wie sollte es denn weitergehen? Selbst wenn ich die Schwangerschaft kotzenderweise überstehe – will ich, dass meine Tochter mir eines Tages zuschaut, wie ich über dem Klo hänge? Will ich, dass sie von klein auf erfährt, was es heißt süchtig zu sein? Soll sie zuschauen, wie ich mich und mein Umfeld kaputt mache, genau so wie ich dabei zusehen musste wie mein Vater sich und seine Familie zerstörte? War es das, was ich wollte? Dass sie genau so leidet wie ich? Am Ende selbst süchtig wird?“
Diese Gedanken ließen mich aufwachen. Tränenbäche strömten über meine Wangen. Mein Vater hat mein Leben zerstört – jetzt habe ich das Leben meines Kindes in der Hand! Ich muss aufhören! Wenn das Baby in meinem Bauch mir nicht helfen kann, den Absprung endgültig zu schaffen, was dann?
In den Monaten bis zur Geburt versuchte ich mir zudem Gutes zu tun. Ich ging zur Aquagymnastik und zum Schwangerenyoga, ließ mich massieren und ging stundenlang spazieren, während ich unendliche viele Hörbücher verschlang. Ich traf Freunde und lernte andere werdende Mamis kennen. Ich passte mein Essverhalten an meine Umstände an und genoss sogar jeden Tag ein Eis. Ich lernte meinen Körper zu schätzen, weil er so faszinierende Arbeit leistete, obwohl ich ihn jahrelang gequält hatte. Ich liebte meinen Babybauch!
Nach der Geburt war mein Körper weich und schwammig. Aber das war mir egal, denn ich hielt unsere Tochter in meinen Armen. Dieses wunderbare Wesen, das ich vom ersten Augenblick mehr liebte als mein eigenes Leben. Außerdem half mir das Stillen auf beeindruckende Weise und sehr schnell wieder in Form zu kommen.
Dennoch dachte ich gelegentlich daran, mich zu übergeben. Wenn ich mich mit Thomas stritt, ich müde und unausgeglichen war, mir alles zu viel wurde. Die Gedanken an das Brechen als Mittel zur „Lebensbewältigung“ begleiteten mich viele Wochen lang, was sicherlich normal ist, wenn man solange und so tief in dieser Sucht steckte.
Die Rahmenbedingungen sorgten allerdings dafür, dass ich nicht konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Unser Mädchen ließ mich in den ersten Wochen kaum von ihrer Seite weichen, fast als würde sie spüren, dass ich etwas Schlimmes vorhabe, wenn sie mich gehen lässt. Sie rief mich stündlich, manchmal halbstündlich auch nachts, so dass sich keine Gelegenheit für einen erneuten Rückfall bot.
Dieser äußere Zwang spielte mir in die Karten, denn er begünstigte die Entscheidung, die ich in der Schwangerschaft gefällt hatte: „Ich will die Beziehung zu meiner Sucht beenden! Jetzt!“
Wie normal mein Leben geworden war, merkte ich allerdings erst als das Mädchen 2,5 Jahre alt war, als mir die Waage in unserem Bad ins Auge fiel. Wie lange hatte ich mich nicht mehr darauf gestellt? Das tägliche, mehrfache und besessene Wiegen war total in Vergessenheit geraten. Ich hatte endlich Frieden geschlossen mit meinem Körper. Nein, ich bewunderte und liebte ihn, weil er so Unglaubliches geleistet hat.
Thomas war es, der mir nach 14 Jahren Bulimie die ersten Schritte in ein suchtfreies Leben ermöglichte. Unsere Tochter gab mir vier Jahre später den letzten nötigen Stupser. Kinder verändern das Leben ihrer Eltern heißt es doch. Durch meine Tochter habe ich mein Leben überhaupt erst zurückgefunden.