Kennt Ihr diese Momente, in denen Euer Kind völlig anders reagiert als erwartet? So ging es mir neulich bei einem Sportkurs, den ich extra für meinen agilen Bub (fast 3 Jahre) gebucht hatte. Statt fröhlich loszurennen und mitzumachen, heftete er sich laut weinend an mein Bein. Selbst als ich ihm versicherte, dass ich die ganze Zeit bei ihm bleibe und wir zusammen spielen können, versuchte er mich aus der Halle herauszuziehen.
Also setzte ich mich mit dem schluchzenden Bub vor die Tür, um ihn zu beruhigen. Er weinte weiterhin so heftig, dass der Coach zu uns kam und fragte, ob alles in Ordnung ist. Ich versuchte zu erklären, dass wir erst vor kurzem von Deutschland nach New York gezogen sind und er vielleicht deshalb etwas durcheinander ist. Er winkte lächelnd ab und sagte nur: „Heute braucht er Dich, in 15 Jahren fragt er nur noch nach Deinem Autoschlüssel!“
Wir sind anders, als die anderen. Mal wieder…
Für diesen Satz hätte ich den Coach glatt knutschen können. Denn obwohl ich im Grunde genau so denke, bin ich hier manchmal im Zweifel. In New York gibt es nicht viele Mütter, die mit ihren Kindern zu Hause bleiben. Erst Recht nicht mit so „alten“ wie der Bub.
Dementsprechend gibt es hier kaum Kurse für „Mama und Kind“. Es ist dagegen üblich die Knirpse mit ihren Nannys zu schicken oder sie einfach ohne Betreuungsperson (und ohne Eingewöhnung) beim Kursleiter abzugeben. Und letzteres scheint den meisten Kindern hier wenig auszumachen. Sie sind es offenbar gewöhnt.
Auch wenn ich mich dadurch eigentlich nicht unter Druck setzen lasse, fühlte ich mich irgendwie unwohl – als einzige Mutter im Kurs mit einem klammernden Kind. Ich hätte ihn im Leben nicht deswegen alleine zurückgelassen. Ganz und gar nicht. Aber es verursachte ein unangenehmes Gefühl in mir. Ein wohlbekanntes, unangenehmes Gefühl, das immer dann entsteht, wenn ich mit meinen Kindern etwas anders mache, als all die anderen.
Trotzdem bleibt er bei mir!
Für mich gibt es jedoch momentan keinen überzeugenden Grund, den Bub in einen Kindergarten zu stecken, ganz im Gegenteil. Ginge er an zwei Tagen pro Woche für jeweils 2,5 Stunden in eine Einrichtung, würde uns das 5000 Dollar pro Jahr kosten. Bei fünf Tagen pro Woche à 2,5 Stunden beträgt der Spaß mehr als 7000 Dollar pro Jahr. Irre, oder?
Weiterhin fehlt hier ein sanfter Eingewöhnungsprozess wie ich ihn aus Deutschland kenne (siehe „Berliner Model“). Die Kinder werden einfach abgegeben. Fertig. Beim Bub kann ich mir solch einen Wurf ins kalte Wasser grundsätzlich nur schwer vorstellen, im Augenblick jedoch gar nicht. Denn seit er freiwillig bei einem Elternabend alleine – wie ein „big boy“- in der Kinderbetreuung bleiben wollte (was letztendlich in einem Weinkrampf endete), schaut er mich vor jedem Ausflug aufs Neue an und versichert sich: „Aber nicht ohne Mama, ja!?“
Davon abgesehen habe ich das Gefühl, dass er die Situation so wie sie gerade ist, prima findet. Er genießt es morgens gemütlich in den Tag zu starten und mit mir auf der Couch zu kuscheln, während ich ihm ohne Ende Kinderbücher vorlese. Er scheint glücklich zu sein bei unseren endlos langen Streifzügen durch die Natur. Er mag die Kinderveranstaltungen und -orte, die ich regelmäßig mit ihm besuche, er ist allerdings auch froh, wenn er mich danach wieder für sich alleine hat. Er wirkt völlig zufrieden an meiner Seite und ist damit ganz anders als seine Schwester in dem Alter – sie hat sich damals nämlich, mit den Hufen scharrend und sehnsüchtig schauend, ihr Gesicht an jedem Kindergartenspielplatzzaun platt gedrückt (sie auch „Kindergarten ab drei“) .
Warum nicht einfach machen lassen?
Mittlerweile weiß ich übrigens, dass er den Sportkurs nicht mochte, wegen der ausführlichen Anweisungen des Trainers am Anfang der Stunde. Dieser nahm sich auch beim zweiten Treffen locker 20 Minuten Zeit (wirklich wahr), um den Kids Regeln zu erklären. Damit konnte der Bub überhaupt nichts anfangen und er schmiss sich wieder frustriert auf den Boden. Er wollte so viel lieber mit dem verlockenden Sportequipment in der Halle spielen.
Ein ähnliches Szenario wiederholte sich dann vorgestern bei einer Probestunde in einem Indoor-Spielplatz. Er kletterte vergnügt eine Rampe hinauf, wurde dann aber zu den anderen Kindern in einen Sitzkreis getragen, wo er den Übungen einer Trainerin folgen sollte. Denn die amerikanische Vorstellung von Kinderbeschäftigung beinhaltet oft ein edukatives, strukturiertes Programm, selbst beim Sport. Doch der Bub will frei sein und die Welt auf seine eigene Weise erkunden dürfen, also protestierte er wieder ohrenbetäubend.
Was immer uns gut tut!
Da ich ihn in den letzten Jahren immer darin bestärkt habe, sich alle Zeit der Welt für seine Interessen und täglichen Erkundungen zu nehmen und stets seiner Neugier und seinen Impulsen beim Spiel zu folgen, werde ich ihn jetzt natürlich nicht plötzlich entgegen seiner Natur zu Sachen zwingen, die er partout nicht mag. Vor allem dann nicht, wenn ich selbst keinen Sinn in diesen sehe.
Für uns beide stehen deswegen nur noch Aktivitäten auf dem Plan, die uns beiden Spaß bereiten und gut tun. Solche finden wir in New York glücklicherweise zur Genüge – hier eine kleine Auswahl:
Wir erkunden versteckte Orte.
Wir streifen durch den Zoo.
Wir schlendern umher und gehen Alltagsrätseln auf den Grund.
Wir buddeln regelmäßig am Strand, auch bei kühleren Temperaturen.
Wir radeln durch die Gegend, während der Bub die Fahrtrichtung angibt.
Wir verputzen unser Mittagessen meist an der frischen Luft.
Das heiß geliebte Laufrad kommt fast täglich zum Einsatz.
Montags sind wir Lernende in einem Naturprogramm für Kinder.
Donnerstags haben wir meist eine ganze Trampolinhalle für uns alleine 🙂
Wir verbringen viel Zeit in Kindermuseen.
Manchmal besuchen wir „richtige“ Museen.
Einer unserer oft angesteuerten Lieblingsorte ist die Bücherei.
Wir spielen natürlich auch zu Hause.
Der Bub liebt Rollenspiele.
Manchmal biete ich ihm Übungen an, weil seine Schwester diese liebte (siehe „Montessori Spielideen„).
Aber er macht lieber sein eigenes Ding.
Allerdings hilft er mir gerne bei „echten“ Übungen des Alltags.
Er kann Waschmaschine, Trockner und Geschirrspüler selbstständig bedienen.
Und er ist ein spitzen Koch.
Du bist wichtig für mich!
Durch die Worte des Coaches wurde mir einmal mehr bewusst, dass die Tage tatsächlich begrenzt sind, an denen der Bub mich so sehr braucht. Und wie großartig es doch ist, dass es einen Menschen in meinem Leben gibt, der freiwillig jeden Tag mit mir verbringen möchte. Vom Aufwachen bis zum Einschlafen jede einzelne Minute.
Heute bin ich wichtig für ihn, um genau zu sein die wichtigste Person in seinem Leben. In ein paar Jahren sieht das sicherlich völlig anders aus. Heute habe ich glücklicherweise die Zeit und Möglichkeit für ihn da zu sein, warum also nicht diesen kostbaren Abschnitt auskosten und genießen?
Auf das Herz hören
Immer wieder vernahm ich vorsichtige Gegenstimmen, die mich freundlich daran „erinnerten“, dass er doch sicherlich Gleichaltrige zum Spielen und für seine „social skills“ benötige. Dass es bestimmt gut für ihn wäre, ein paar Stunden ohne mich zu spielen. Wegen der Selbstständigkeit und so.
Mittlerweile habe ich die Phase der leisen Zweifel, Bedenken und Grübeleien erfolgreich hinter mich gebracht. Einerseits hat der Bub täglich Kontakte zu Kindern aller Altersklassen. Einige davon sieht er regelmäßig, beispielsweise in den 1-2 Stunden, die wir nach der Schule auf dem tollen Schulspielplatz spielen.
Andererseits höre ich nur noch auf uns. Der Bub möchte bei mir sein und ich bin gerne mit ihm zusammen. Unsere Herzen sagen, dass wir jetzt noch etwas Zeit miteinander verbringen möchten. Das ist das einzige, was jetzt für mich zählt.
Das Loslassen kommt von selbst
Ich habe volles Vertrauen darin, dass meine sichere, liebevolle Begleitung meine Kinder nicht künstlich oder anomal lange an mich bindet, sondern dass diese ihnen genau die solide Basis verschafft, die sie benötigen, um selbstbewusst in die Welt zu marschieren. Das Mädchen war mit drei Jahren bereit, die Vormittage ohne mich zu verbringen, der Bub benötigt anscheinend (eventuell verursacht durch den Auswanderungsprozess) etwas länger.
Was braucht (m)ein Kind wirklich?
Außerdem bin ich überzeugt davon, dass Kinder davon profitieren, wenn man sie so lang wie möglich Kind sein bzw. frei sein lässt. Ich bin kein großer Freund von streng geplanten Kinderprogrammen und -abläufen wie ich sie hier oft sehe, egal wie hübsch die „sensory tables“ und „science centre“ auch arrangiert sind. Denn beim freien Spiel, vorzugsweise in der Natur, bei dem Kinder in ihrem eigenen Tempo erkunden, erforschen, erfinden und vor allem sich schmutzig machen dürfen, sind die Möglichkeiten des Lernens schier unbegrenzt (siehe auch: „Kinder brauchen Matsch“).
Das ist ein weiterer Grund, warum ich nicht sonderlich erpicht darauf bin, den Bub schnellstmöglich in einer Einrichtung unterzubringen. Bei mir darf er barfuß laufen, mit seinem Laufrad Hänge hinunter fahren, an Flüssen und Seen spielen, Felsen hinauf klettern, Stöcke schnitzen und so vieles mehr. Dinge, die bei den sicherheitsorientierten Amerikanern regelmäßig für Herzinfarkte sorgen würden. Dinge, von denen ich allerdings genau weiß, dass er sie mag, braucht und vor allem kann.
Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu genießen
Fünf Minuten nach seinem Zusammenbruch im Indoorspielplatz, bin ich übrigens mit ihm zu einem unserer Lieblingsorte gefahren. Auf der Fahrt dahin fragte ich ihn, ob es ihm besser geht. Er nickte, lächelte mich mit verheulten Augen an und und antwortete: „Viel besser!“
Das Leben ist definitiv zu kurz, um sich durch unschöne Situationen zu quälen. Ich bin zwar immer dafür Neues aller Art mit den Kindern auszuprobieren, um herauszufinden, ob wir es mögen. Aber stets mit der Option für alle „Das gefällt mir nicht!“ sagen zu dürfen, erst Recht wenn es keine zwingende Notwendigkeit (wie beim Schulbesuch) dafür gibt.
Schlußgedanke
Und so verbringen wir jetzt den Winter gemeinsam zu Hause und tun einfach das, wonach uns der Sinn steht, weil sich genau das richtig und gut für uns anfühlt.
Sollte er irgendwann in den nächsten Wochen oder Monaten den Wunsch entwickeln, in einen Kindergarten gehen zu wollen, werde ich mich nach einer Stelle für ihn umschauen. Quereinstiege sind hier bei einigen Einrichtungen möglich, danach hatte ich mich bereits erkundigt.
Bis dahin genieße ich die Zeit mit ihm. Jede einzelne Minute.