Außerfamiliäre Betreuung?! Nur wenn die Qualität stimmt…

Kathrin Gastartikel 9 Comments

Karolin-martinEin Gastbeitrag von Kindergärtnerin Karolin Martin ( Studium der Erziehungswissenschaft und Psychologie).

Sehr sympathisch fand ich übrigens ihre Bemerkung zu meiner Frage, warum sie nicht Erzieherin genannt werden möchte:
„Ich mag das Wort „Erzieherin“ nicht; ich ziehe ja nicht an den Kindern, sondern in lasse sie wachsen. […] Ich mag einfach das Bild des Kindergartens, wo Kinder auf einem fruchtbaren Boden Wurzeln schlagen, wo sie wachsen und gedeihen können und die Erwachsenen diese Entwicklung begleiten. Aber nun ist ja auch nicht jede Einrichtung, die sich Kindergarten nennt, wirklich so ein Ort; viel zu oft wird eben doch noch „gezogen“ und „beschnitten“. Aber das wäre dann ein Thema für sich…“

Viel Spaß beim Lesen
Eure Kathrin

Unzählige Studien sind der Frage ausführlich nachgegangen, ob die Betreuung von Kindern in Krippen deren Gesundheit und besonders ihre Bindungsentwicklung negativ beeinflusst oder ob gerade diese Art der Betreuung die geistige, soziale und emotionale Entwicklung fördert. Zunächst gilt festzuhalten, dass eine frühe außerhäusliche Betreuung nicht zwingend negative Auswirkungen haben muss.

„Ein Kind will umsorgt sein, sich geborgen und angenommen fühlen,
damit es gedeihen und sich seinen Möglichkeiten entsprechend entwickeln kann.“ (Remo Largo)

Die Forschung hat bestätigt, dass Kinder — neben den primären Bindungsbeziehungen zu ihren Eltern — noch weitere Bindungen aufbauen können; diese Bindungspersonen können Großeltern, andere Verwandte oder enge Freunde der Eltern, aber auch pädagogische Fachkräfte sein. Entscheidend für das Kind sind die Stabilität der Beziehungen und die Feinfühligkeit gegenüber seinen Signalen und Bedürfnissen. (Vgl. Staatsinstitut für Frühpädagogik München 2010, S. 42)

Von zusätzlichen, sicheren Bindungserfahrungen können Kinder stark profitieren: „Sie stellen eine große Ressource dar und können unter Umständen sogar kompensatorische Wirkung für diejenigen Kinder entfalten, die keine sichere Bindung zu ihren Eltern entwickeln konnten.“ (Ebd.) Zwar fällt es Kindern mit sicheren Bindungserfahrungen leichter, vertrauensvolle Beziehungen (und Bindungen) zu anderen Erwachsenen aufzubauen; wie die Resilienzforschung jedoch zeigen konnte, können aber auch Kinder ohne sichere Bindung zu ihren primären Bezugspersonen zu anderen Personen sichere Bindungen entwickeln und dadurch in ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit gestärkt werden. (Vgl. Becker-Stoll 2014, S. 166; Staatsinstitut für Frühpädagogik 2010, S. 42-43)

Karl Heinz Brisch, Kinder- und Jugendpsychiater und einer der bekanntesten Bindungsforscher in Deutschland, stellt auf Grund verschiedenster Untersuchung fest, „dass sich das Risiko für eine unsichere Bindungsentwicklung nur dann erhöhte, wenn die Zahl der Fremdbetreuungsstunden hoch war, das Kind also schon im ersten Lebensjahr viele Tage in der Woche für viele Stunden in der Krippe betreut wurde, wenn Pflegekräfte ständig wechselten und wenn das Verhalten der Mutter dem Kind gegenüber durch mangelnde Feinfühligkeit charakterisiert war. War die Mutter-Kind-Beziehung zu Hause gut und feinfühlig, waren die Kinder trotz nicht so guter Krippenbedingungen eher sicher an ihre Mütter gebunden. Eine qualitativ schlechte Fremdbetreuung war dann ein Risiko für eine unsichere Bindungsentwicklung, wenn die Mutter-Kind-Beziehung vorbelastet war. Kommen diese Kinder jedoch in eine Krippe mit einer hohen Qualität und einem sehr guten Betreuungsverhältnis (…) und finden sie dort feinfühlige Erzieherinnen vor, besteht eine große Chance, dass sie sich sicher an diese binden.“ (Brisch 2010, S. 138)

Auch Lieselotte Ahnert, (Entwicklungs-)Psychologin und ebenfalls Expertin für frühe Bindung, kommt zu dem Schluss: „Erzieherinnen sind (…) in der Lage, zur Bindungsentwicklung des Kinder beizutragen; sie können auf dieser Basis die Entwicklung des Kindes auch zielführend begleiten und die richtigen Impulse setzen. Voraussetzung dafür sind allerdings Betreuungsbedingungen, die Interaktions- und Dialogformen zulassen, welche den Entwicklungserfordernissen in der frühen Kindheit entsprechen.“ (Ahnert 2014, S. 87)

Bindungsforscher Klaus Grossmann fordert daher berechtigt: „Die öffentliche Debatte kreist immer um den Gegensatz Mutter versus Fremderziehung. Aber die Frage sollte sein: Wie qualifiziert sind die Betreuer, die die Mutter bei ihrer Erziehungsaufgabe entlasten? Dann wäre die Diskussion auch weniger ideologisch.“ Es kommt also auf die Qualität der außerhäuslichen Betreuung an, also darauf, wie pädagogische Fachkräfte auf die verschiedensten Bedürfnisse der ihnen anvertrauten Kinder — trotz gesetzlicher Rahmenbedingungen, wie z.B. dem Personalschlüssel — möglichst individuell eingehen können.

„Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen,
die dem Leben seinen Wert geben.“ (Wilhelm von Humboldt)

Fabienne Becker-Stoll sieht ebenfalls in der Qualität der Einrichtung die entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich der Krippenbesuch tatsächlich entwicklungsförderlich auf das Kind auswirkt. Sie unterteilt dabei vier Qualitätsbereiche:

  • Strukturqualität (räumliche, zeitliche und personelle Bedingungen)
  • Prozessqualität (Betreuung, Erziehung, Bildung, Kooperation mit den Eltern)
  • Kontextqualität (Arbeitszufriedenheit, Berufsbild, Kooperation im Team, Weiterbildungsmöglichkeiten)
  • Orientierungsqualität (Bild vom Kind, pädagogisches Leitbild, Erziehungs- und Bildungsziele)

Weiterhin führt sie

  • eine vertrauensvolle Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Fachkräften,
  • eine elternbegleitete, bezugspersonenorientierte und abschiedsbewusste Eingewöhnung,
  • kontinuierliche, feinfühlige Interaktionserfahrungen mit der Bezugspädagogin,
  • kleine, stabile Gruppen,
  • eine geringe Personalfluktuation, Ersatzkräfte in der Einrichtung sowie
  • eine hervorragende Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals

als Qualitätsmerkmale an. (Vgl. Becker-Stoll 2014, S. 158-159, 167) „Die Erzieherin-Kind-Beziehung kann nur dann zu einer vertrauensvollen und weiteren Bindungsbeziehung werden, wenn die Arbeitsbedingungen in der betreffenden Einrichtung dies ermöglichen. Dann kann das Kind die Erzieherin als sichere Basis erleben, die ihm die Sicherheit sowohl der Bindung als auch der Exploration gibt und damit die psychischen Bedürfnisse des Kindes nach Bindung, Kompetenz und Autonomie entwicklungsangemessen befriedigt. (…) Letztlich ist für die Entwicklung des Kindes die Qualität der Betreuungssituation entscheidend, nicht die Tatsache, ob es nur von seinen Eltern zu Hause oder auch von anderen Personen außerhalb seiner Familie betreut wird.“ (Becker-Stoll 2014, S. 166-167)

Für Eltern ist es natürlich nahezu unmöglich, festzustellen, ob ein Kindergarten die genannten Merkmale erfüllt und so eine qualitativ hochwertige Betreuung für Kinder anbieten kann. Manchmal können allerdings die folgenden Punkte beim Finden einer Entscheidung hilfreich sein:

• Formulieren eigener Werte

Dass Eltern sich mit der Frage auseinandersetzen, was sie sich für ihr Kind bezogen auf den Alltag im Kindergarten wünschen, halte ich für besonders wichtig. Es ist am Ende niemandem geholfen, wenn eine Einrichtung zwar im Freundeskreis auf breite Zustimmung stößt, aber die dort vorherrschenden Erziehungsansichten eben nicht zu den eigenen passen.

• Erste Hinweise in der Konzeption

Auch die Konzeption aufmerksam zu lesen, kann unterstützend sein. So können Fragen, die beim Lesen entstehen, in einem ersten Kennenlerntreffen mit der Leitung durch diese beantwortet werden. Die Eltern können dabei herausfinden, ob es sich beim Inhalt der Konzeption um den tatsächlich gelebten Alltag mit den Kindern oder um „leere Worthülsen“ handelt. Sind in der Konzeption Punkte enthalten, die sich mit den Ansichten der Eltern nicht vereinbaren lassen, z.B. Mediennutzung, „Töpfchen-Training“ oder strukturierte Tagesabläufe wie in der Schule, sollte auch hier konkret nachgehakt werden; zum Schluss können solche Aspekte dann auch zu Ausschlusskriterien werden.

• Rundgang und regelmäßige Besuche

Bei einer ersten, kurzen „Führung“ durch das Haus strömen so viele Eindrücke auf die Eltern ein, dass es meist schwierig ist, diese zu filtern und nach Priorität zu ordnen. Vieles wird schlichtweg übersehen. Deshalb dürfen Eltern gern auch öfter wiederkommen und z.B. ein paar Vormittage mit ihrem Kind im Garten verbringen. Ein Kindergarten, der nichts zu verbergen hat, wird sich über diesen Besuch freuen. Dann haben die Eltern auch mehr Zeit zum Beobachten: Wie ist der Kontakt zwischen Kindern und Pädagoginnen? Stehen die Fachkräfte im „Morgenkreis“ bei einer Tasse Kaffee zusammen und plaudern oder spielen sie aktiv mit den Kindern? Wie reagieren die Kindergärtnerinnen auf Bindungsbedürfnisse der Kinder? Wie ist der Umgang zwischen den Kindern? Wie sieht die Kommunikation zwischen Eltern und Fachkräften aus?

• Individualität und Zeit

Auch wenn sich durch bestimmte personelle, räumliche und gesetzliche Rahmenbedingungen im Kindergarten gewisse Strukturen im Tagesablauf nicht vermeiden lassen, sollten die individuellen Bedürfnisse der Kinder stets im Vordergrund stehen. Auch hier kann eine genaue Beobachtung sehr aufschlussreich sein: Gibt es „Angebote“, bei denen alle Kinder das Gleiche machen müssen? Wie häufig werden Spielhandlungen durch „Tagesordnungspunkte“ unterbrochen? Wie viel Ruhe und Zeit erhalten Kinder für ihre Entwicklungsschritte? Wie wird mit verhaltensirritierten Kindern umgegangen?

Werden Themen der Kinder aufgegriffen oder steht im Mittelpunkt, was die Pädagoginnen für wichtig und förderlich für die Kinder erachten?

• Kindgerechte Umgebung

In diesem Zusammenhang zeigt sich häufig besonders deutlich, ob die Gestaltung des Hauses tatsächlich vom Kind aus gedacht ist oder hier vielmehr den Ansprüchen Erwachsener Rechnung getragen wird: Lässt das Spielmaterial viel Raum für Kreativität? Können die Kinder das Spielzeug selbst erreichen oder müssen sie immer wieder fragen, ob es ihnen die Pädagogin geben kann? Sind auch die „Gegenstände des täglichen Lebens“, wie z.B. Geschirr, Besteck, Zahnputzbecher, Portfolio-Mappen, Klopapier oder Wechselbeutel, auf Augenhöhe der Kinder, damit diese sich möglich selbst bedienen können? Gibt es „Geheimfächer“, in denen Kinder persönliche Wertgegenstände aufbewahren können? Sind die Räume gemeinsam mit den Kindern gestaltet und entsprechen sie deren Themen oder finden sich hauptsächlich „Dekoartikel“, die die Fachkräfte zu Hause nicht mehr brauchten?

• Bauchgefühl

Auch die Eltern sollen und müssen (!!!) sich im Kindergarten wohlfühlen, damit eine tragfähige Beziehung und später auch eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zwischen ihnen und den pädagogischen Fachkräften entstehen kann. Nur Eltern, die sich mit all ihren Wünschen, Hoffnungen, aber auch Ängsten und Befürchtungen angenommen, verstanden und wertgeschätzt fühlen, werden das Vertrauen in die Pädagoginnen haben, ihnen den kostbarsten Schatz ihres Lebens mit einem guten Gefühl zu überlassen.

Ob ein Kindergarten tatsächlich zu einem Ort werden kann, an dem ein Kind in seinem Tempo wirklich wachsen kann, ist von vielen Faktoren abhängig. Das einzelne Kind, die individuelle Familiengeschichte und die in der Einrichtung vorherrschende Bildungspraxis müssen dabei berücksichtigt werden, so dass im Grunde keine pauschalen Aussagen möglich sind: Was für den einen gut passt, muss für den anderen noch lange nicht stimmig sein.

Als bindungs- und bedürfnisorientierte Elementarpädagogin und werdende Mama wünsche ich mir daher, wie auch Klaus Grossman, weg zu kommen von einer vorverurteilenden Diskussion über „Rabenmütter“, die ihre Kinder schon mit 12 Monaten in der Krippe betreuen lassen, und über „überbehütende Glucken“, die ihre Kinder bis zum dritten Geburtstag (und vielleicht auch darüber hinaus) in den eigenen vier Wänden erziehen. Jeder Lebensentwurf hat, wie ich finde, Respekt und Anerkennung verdient, schließlich möchte wahrscheinlich jeder nur das Beste für sein Kind und seine Familie. Das ist immerhin eine Eigenschaft, die beide Parteien gemeinsam haben.

Literatur

Ahnert, Lieselotte (2014): Bindungsentwicklung im Spannungsfeld von Familie und öffentlicher Betreuung. In: Brisch, Karl Heinz/Hellbrügge, Theodor (Hrsg.) (2014): Wege zu sicheren Bindungen in Familie und

Gesellschaft. Prävention, Begleitung, Beratung und Psychotherapie. Stuttgart: Klett Cotta Verlag. S. 79-93.

Becker-Stoll, Fabienne (2014): Von der Eltern-Kind-Bindung zur Erzieherin-Kind-Beziehung. In: Brisch, Karl Heinz/Hellbrügge, Theodor (Hrsg.) (2014): Wege zu sicheren Bindungen in Familie und Gesellschaft. Prävention, Begleitung, Beratung und Psychotherapie. Stuttgart: Klett Cotta Verlag. S. 152-169.

Brisch, Karl Heinz (2010): SAFE. Sichere Ausbildung für Eltern. Stuttgart: Klett Cotta Verlag.

Staatsinstitut für Frühpädagogik München (2010): Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Handreichung zum Bayrischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung. Weimar: Verlag das Netz.

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